Ein Beitrag von Kai Kabs-Ballbach
Vielfalt und Differenz bei Menschen sind eine Tatsache. Kategorien wie Kultur, Ethnie, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Religion sowie die soziale Herkunft markieren existente wertfreie Unterschiede bei Menschen. Erst durch Abwertungen und Zuschreibungen können willkürliche Diskriminierungsstrukturen entstehen:
Mädchen wird beispielsweise abgesprochen, dass sie einen guten Zugang zu naturwissenschaftlichen Fächern und Themen haben, Jungen wird abgesprochen sozial kompetent zu sein. Arabischstämmigen männlichen Jugendlichen wird eine übergriffige Sexualität unterstellt. Muslimische Mädchen und Frauen mit Kopftuch werden gemäß dem konstruierten Bild unterdrückt und Menschen mit Behinderung wird zu Unrecht die Entscheidungs- und Teilhabekompetenz abgesprochen. Über arme Familien wird kolportiert, dass sie bildungsferne Kinder in die Bildungsinstitutionen schicken.
So ließen sich weitere Stereotypien und falsche Behauptungen nennen. Die meisten Menschen die diese Aufreihung lesen, sind sich sicher, dass sie selber nicht die genannten Personen diskriminieren oder in diesen Konstruktionen denken. Intellektuell ist uns allen klar, dass dies tradierte diskriminierende Bilder sind und diese unser Denken und Handeln nicht bestimmen (dürfen). Und dennoch verlaufen bis heute Strukturen sozialer Ungleichheit und intersektionale[i] Dynamiken genau entlang der genannten Linien. Das nach wie vor existierende Dispositiv[ii] erreicht und betrifft mich, Dich - uns alle. Bis heute. Anders lassen sich Untersuchungen wie z.B. die OECD-Studien[iii] nicht erklären. Die Studien bestätigen ein ums andere Mal, dass das deutsche Bildungssystem stark segregierend ist und an Diskriminierungsstrukturen festhält (vgl. OECD.org 2021).
„Eine diskriminierungsfreie Bildung gibt es nicht. Die verschiedenen Formen von Diskriminierung, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus und Ableismus, wirken jederzeit in Lehr-Lern-Prozesse hinein. Sie haben stets Einfluss auf die Denk- und Handlungsweisen sowie auf das Gefühlserleben aller beteiligten Bildungsakteur*innen. Das betrifft auch die schulische Bildungsarbeit. Deshalb ist es wichtig, nicht davon auszugehen, schulische Bildungsräume schaffen und eine schulische Bildungsarbeit leisten zu können, die vollkommen von Diskriminierung unberührt sind.“ (Bönkost S. 16, 2020[iv]) Auch ginge es nicht darum diskriminierungsfreie Räume zu schaffen, sondern „es geht vielmehr darum, ein Lernen zu unterstützen, mit dem diskriminierende Wissensbestände hinterfragt und eine diskriminierungskritische Haltung gefördert werden. Das setzt eine bewusste politische Positionierung der Pädagog*innen gegen Diskriminierung voraus (ebd.). Diese Analyse ist für alle Bildungsbereiche zutreffend und lässt sich ebenfalls für die non-formale und informelle Bildung vermerken. Letztlich sind also alle Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe ebenfalls gefordert, dieses Thema konsequent und spürbar anzugehen.
Da diese Strukturen in unsere täglichen Interaktionen miteingewoben sind, bieten sich u.a. regelmäßige Reflexionsprozesse an, um unmerkliche und unbewusste Diskriminierungsstrukturen aufs Tapet zu holen. Auch steht fest, dass dies keine einmaligen Interventionen sein können. Diese von Bönkost geforderte Positionierung muss letztlich von allen Beteiligten aktiv und regelmäßig erarbeitet werden, genauso an- und ausdauernd wie auch willkürliche Diskriminierungsstrukturen Bestand haben, zurückkehren oder neu entstehen.
Nun ist dies nicht nur ein individuelles, bzw. ein zu individualisierendes Thema. Auch institutionell und politisch müssen regelmäßig Konzeptionen, Strukturen, Regeln und Gesetze sowie Förderungen auf diskriminierende Strukturen hin überprüft werden, genauso, wie dies dauerhaft im „Alltagsleben“ zu bedenken und zu bearbeiten ist. Dies ist keine kurzfristig zu bewältigende Aufgabe sondern muss als Querschnittsaufgabe betrachtet und bearbeitet werden.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beobachtete Zeit seines Lebens das Alltägliche, das Alltagsleben und analysierte wie Menschen andere Menschen aufgrund ihres Seins und ihres Handelns – ihres Habitus, in Kategorien oder „Schubladen“ einteilen und eingeteilt werden. Diese „Schubladen“ sind einerseits in der Interaktion zwischen Menschen oft notwendig, um Komplexität zu reduzieren, um schnell und effektiv handeln zu können. Andererseits heißt dies aber auch, dass Merkmale von Menschen verallgemeinert, manchmal überverallgemeinert und Personen eben auch zugeschrieben werden.
Dies birgt die Gefahr, dass Zuschreibungen zu Diskriminierung von Menschen und Gruppen führen können. Aussagen wie: Armut führt zu Bildungsarmut, beinhaltet oftmals die Fehlinterpretation, dass arme Menschen „einfach gestrickt“ oder „ein bisschen dumm“ wären. Richtig ist hier, dass es in Armut lebenden Personen häufiger u.a. an kulturellem und sozialem Kapital (Seek et al 2021, S. 12)[v] fehlt: An anerkannten Bildungsabschlüssen und Zugängen zu gut bezahlten Tätigkeiten. All dies kann zur Folge haben, dass Gruppen in einem mehr oder weniger schleichenden Prozess in Abwertung geraten. In der Begegnung mit Personen dieser Gruppe, erkennbar am Habitus, werden diese dann einer „Schublade“ zugeteilt und die dazugehörigen Bewertungen antizipiert. So entscheidet das von uns je mitgebrachte „Kapital“ (Bourdieu)[vi] folgenschwer mit, welche Zugänge wir haben, wie uns Menschen begegnen und deuten, was Menschen uns zutrauen. „‚Klassismus‘ ist die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres vermuteten oder wirklichen sozialen Status. Klassismus demütigt und er behindert die gesellschaftliche Partizipation von bestimmten Gruppen. Außerdem schränkt er Menschen in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrem beruflichen Werdegang ein.“ (Hartmann, 2015)[vii] Der vermutete oder wirkliche soziale Status führt über den Habitus und unseren bewussten und vor allem unbewussten Bewertungen gegebenenfalls zu Diskriminierung. Die größte Herausforderung hinsichtlich Bewusstwerdungs- und Öffnungsprozessen liegt im pädagogischen Kontext eindeutig bei den Fachkräften. Und darin wiederum steckt gleichzeitig die größte Chance für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
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[i] Der Begriff Intersektionalität umschreibt Diskriminierungsformen wie Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Antifeminismus, religiöse Verfolgung, Homophobie, Transphobie, Behindertenfeindlichkeit/Ableismus und Klassismus nicht isoliert voneinander (Mehrfachdiskriminierung), sondern werden in ihren Interdependenzen und Überkreuzungen (englisch intersections) betrachtet. Sie addieren sich nicht nur in einer Person, sondern führen zu eigenständigen Diskriminierungserfahrungen. Quelle: vgl. Wikipedia 2022
[ii] Foucault, Michele „Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit.: Das Dispositiv stellt die Verflechtung der diskursiven Elemente, d. h. das, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft als denk- und sagbar gilt, mit sozialen Praktiken und Gegenständen dar, die für diese Praktiken von Bedeutung sind. Merve, Berlin 1978. (Neuauflage 2000)
[iii] OECD Bildung auf einen Blick 2021 „Kampf gegen Chancenungleichheit erfordert mehr Investitionen in Bildung“ https://www.oecd.org/berlin/presse/kampf-gegen-chancenungleichheit-erfordert-mehr-investitionen-in-bildung.htm ; aufgerufen am 25.05.2022
[iv] Bönkost Jule „Das Klassenzimmer ist kein diskriminierungsfreier Raum - Über die Notwendigkeit einer diskriminierungskritischen Bildung“ in bbz GEW Berlin 72. (87.) JAHRGANG, NOVEMBER 2020
[v] Seeck Francis & Theißl Brigitte (Hg) in: „Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen“; S. 12; Unrast 2021
[vi] Kapital im Sinne Pierre Bourdieus. Bourdieu trennt bestimmte Klassenmerkmale in die „Kapitalsorten“ ökonomisch, sozial, kulturell und symbolisch auf. In: Bourdieu, Pierre; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982
[vii] Hartmann, Michael Deutsche Eliten: Die wahre Parallelgesellschaft? In: Oben – Mitte – Unten. Zur Vermessung der Gesellschaft. Bundeszentrale für politische Bildung. 2015.
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